#2 | Ketamin Diaries, Steve Bannon und Flechten
10 Tage USA und ich halte die Welt nur noch aus, indem ich 200 mg Ketamin nehme. (Stimmt nicht, aber ist ja wohl mal ein guter Vorspann für die zweite Ausgabe des Newsletters, oder?)
Editorial1
Elf Tage bin ich nun in den USA und alles hier ist nicht mehr so, wie es mal war. Alles vergeht in diesem Land, wie faules Obst, wie Erdbeeren mit Zucker von vorgestern. Kleine Fliegen, die sich in friedlichen Gruppen an den Resten treffen. Ich streife hier hindurch, durch dieses Land und diese Geschichte, die gerade geschrieben wird. Und zum ersten Mal halten wir alle den Stift, nicht nur einzelne Männer. Aber wir ergeben uns diesen Männern und ihren metallischen Visionen von Macht und Geld und Einfluss und dem ewigen Traum, ihren eigenen, toten Eltern sagen zu können: Guck, ich habe es in die Geschichtsbücher geschafft.
Es ist die zweite Ausgabe dieses Newsletters, stand jetzt, sind wir 391 Lesende, ich finde das schön. Eine Sporthalle voller Menschen, die sich mit meinen Gedanken eigene Gedanken machen. Ich finde es schön, aber dennoch habe ich jetzt sieben Tage über diesen Newsletter nachgedacht und die Scheu, die ich empfinde, während des Schreibens. Weil es keine richtige Zeitung gibt, die ihn druckt, weil es keine Redaktion gibt, die meinem Text eine Absolution erteilt: Druckenswert. Meine Texte, die strengen Kriterien von Geschmack und Zeitgeist und Regeln entsprechen müssen. Jetzt, hier ist es egal. Was eigentlich befreiend sein sollte, engt mich aber ein. Es gibt kein Korrektiv. Keine Redakteurin, kein Redakteur, die kritisch hineingreifen in meine Texte und damit irgendwie auch mein Selbstbewusstsein.
Aber es stimmt nicht. Das Korrektiv sind diese Menschen in der Sporthalle, die Lesenden, die immer sagen können: Interessiert mich nicht, ist scheisse geschrieben und am schlimmsten für mich: Spüre nichts.
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Kultur
Ich habe „Image“ durch und es fühlte sich am Ende doch wie ein Meme an, ein Bild im Internet. Extrem kurzfristig.
Im Anschluss habe ich ein dünnes Buch von Werner Herzog gelesen. Dieser Filmemacher, der auch für seine Off-Texte bekannt ist. „Vom Gehen im Eis“, ein sehr schreckliches Buch, sperrig und unfreundlich in seiner Lesbarkeit. Ich glaube, es liegt daran, dass Herzog dieses Buch für sich geschrieben hat und nicht für ein Publikum. Mir wurde dieses Buch gegeben, ich solle es lesen, sagte eine Person. Irgendwann, nach 80 Seiten schrieb ich dieser Person:
„Das Buch ist schon sehr dicht“
„Ja“
„Das Buch ist auch sehr schrecklich“, schrieb ich.
„Ja, voll“, schrieb sie. Und erklärte mir, irgendwie ist es auch cool, wenn es mal nicht ums gefallen und anbiedern ginge.
Der Grund, warum es ein seltsames Buch ist: Es geht um so viel, Herzog läuft los, von München nach Paris, um eine, dem Tode nahe Person zu treffen. Die Verzweiflung treibt ihn in den süddeutschen Winter, in den Schnee und Matsch, treibt ihn Richtung Paris. Aber ich erfahre keine Innenansichten von Herzog, nichts. Einzig, als er ein Mal sinngemäß schrieb: „Die Einsamkeit kommt heute von Westen“, das fand ich einen schönen Satz. Für den hat es sich gelohnt. Also: Bitte lest dieses Buch, es ist nachhaltiger, als der Ekel der Neuzeit. Und damit ist es sehr wertvoll.
Spiele immer noch Zelda auf meinem Nintendo DS, dabei hat mir mein Bruder das Originalmodul zu „Golden Sun“ für den Game Boy Advanced geschenkt und er fragt mich immer, ob ich es schon spiele, aber ich spiele es noch nicht.
Ich gucke nichts gezielt auf meinem iPad. Aber weil die Welt so scheisse ist, gucke ich Zeichentrickfilme (Venture Bros.). Will lieber lesen und habe vor kurzem Leon de Winters neues Buch angefangen, direkt nach Werner Herzog. „Stadt der Hunde“ und ich hoffe, bereits nach den ersten 70 Seiten, irgendwann kann ich auch mal so wie de Winter erzählen.
Kolumne
Sitze im Schneidersitz auf einem Felsen, den die Eiszeit mir geschliffen hat. Sitze dort, sodass ich in diese Weite um Denver blicken kann. So weit, dass der Atem kurz wird, ich fast zu ersticken drohe, so viel Ferne in meinem Blickfeld. Sitze dort, der Schweiß trocknet, die Sonne dörrt meine Lippen aus, macht meine Haut braun und hebelt die Leberflecken und Sommersprossen hervor. Ich sitze dort, vollkommen erschöpft, weil ich gestern nun zum ersten Mal in meinem Leben Ketamin genommen habe, in einer hohen Dosis. 200 mg, als Lutschtablette, musste sie im Mund hin und her werfen, 15 Minuten lang, bis alles sich nach Abschied anfühlte.
15 Minuten und dann plötzlich und unerwartet drückt mich mein Gemüt in die Couch eines Therapiezimmers. Hebt und senkt meinen Körper, obwohl ich liege, werde ich bewegt, es fühlt sich an, als würde ich der Wagen einer Geisterbahn sein, ruckhaft, drehe mich, die Insassen des Wagens müssen immer die Attraktionen ansehen, der Blick kann nur abgewandt, in die die Augen geschlossen werden. Unmögliche Richtungen, ich spüre, wie ich diagonal durch den Raum fliege und ich spüre plötzlich so viel. Ich spüre so viel, obwohl ich das Spüren ein wenig verlernt habe. Und bin überrascht, dachte, ich bin vorbeireitet, dachte, das, was dieser Rausch ist, kann nicht so imposant sein, weil Menschen das doch auf Festivals nehmen. Das ist doch eine Droge, dachte ich. Und kein seltsames Werkzeug.
Aber ich habe mich geirrt, geometrische Figuren in den Farben der T-Shirts unserer Eltern aus den Siebzigern, Ortswechsel, obwohl ich liege. Der Weltraum zusammengesetzt aus Würfeln, Raumstationen, Orte weit entfernt von allem Irdischen, ohne das sie mir Angst einjagen. Aber alles so einsam, ich bin überall alleine. Fühle Tränen, weine aber nicht und verliere das Gespür für Zeit, verliere das Gefühl für den Raum, für Denver, für die USA, für Deutschland. Seit Monaten, eine schwere Traurigkeit in mir, auf mir, haftet an mir, wie ein Duschvorhang am Oberschenkel. Haftet und lässt sich nicht abstreifen.
Vorher wollte die Therapeutin wissen, was ich erreichen will, und ich habe gesagt, ich möchte wieder ich sein. Derjenige, der ich noch vor wenigen Monaten war, derjenige, der sich vor Achterbahnen fürchtet, aber nicht vor dem Leben.
Die Zeit vergeht und ich erlebe in diesem Rausch verschiedene Situationen vor meinem inneren Auge. Erlebe sie, habe sie aber wieder vergessen. Meine Mutter war dort, immer wieder, das Gefühl, für sie da zu sein. Aber nicht nur meine Mutter war dort, sondern auch ein Satz, ein Mantra.
„Es ist ok“, ich habe es gehört, erstaunlicherweise auf Englisch. „Es ist ok“, immer wieder. „Das ist die Mitte des Lebens, sie fühlt sich so an“, sagte die Stimme. „Es ist anstrengend, das geht vorbei“, sagte die Stimme. „Irgendwann bist du der Letzte“, sagt die Stimme.
Meine Stimme. Es war, als würden meine Gedanken mich in den Arm nehmen, mich wiegen und halten und mich pflegen, sich sorgen. „Es ist OK“, haben sie gesagt.
Und nun sitze ich auf diesem Felsen, mit diesem Gefühl, blicke in dieses Land hinein, das in sich zusammenfällt, das so sehr nach einer Lösung sucht. Eine Gesellschaft, an deren Oberschenkel auch ein Duschvorhang klebt. Blicke und wundere mich, weil ich als Mensch, der nicht spirituell ist, verstehen will, was mir da mein Kopf sagt, was mir da meine Seele mitteilen möchte.
Ich suche eine sachliche Lösung für alles in einer Welt, die Sachlichkeit bestrafen möchte.
Ich verlasse den Felsen, stehe auf, gehe hinunter, treffe mich mit den Kollegen, fahre zurück nach Denver, weg von diesem Felsen, und ich steige in ein Flugzeug und werde übermorgen versuchen, Steve Bannon davon zu überzeugen, mit mir zu sprechen.
Zum ersten Mal seit Monaten, mit diesem Gedanken, bin ich wieder glücklich. Nein, nicht glücklich, bin seit Monaten zum ersten Mal wieder sinnvoll.
Habe auf dem Rückweg zum Auto sehr schöne Flechten gefunden, anbei mal zwei Bilder.
Toll, oder? Wir hören uns nächste Woche, Feedback gerne auf Patreon oder hier oder Insta.
So richtig weiss ich noch nicht, was ich jedes mal hier schreiben soll
Mehr Fotos von Flechten, definitiv. Dein Tagebuchstyle hat nen guten Flow.
Schöne Kolumne, Thilo.